Weihnachten auf See

    Ein Windjammerkapitän berichtet

    „Ruhige Weihnachten auf See habe ich selten erlebt, irgendetwas passierte immer.

    Ich erinnere mich noch genau an unsere Rekordreise mit der PRIWALL von Hamburg zum Spencer Golf in Australien. Wir feierten Weihnachten im Indischen Ozean, südlich von den Kerguélen.

    Am 23. Dezember standen wir, der Erste, Zweite und Dritte Offizier und ich, der Kapitän, an Deck und sahen über das weite ruhige Wasser. Keiner sagte ein Wort. Aber jeder wußte vom anderen, daß er an Heiligabend dachte. Jeder von uns wünschte sich in diesem Moment etwas. Der Erste wollte einfach nur zu Hause sein, der Zweite sehnte sich nach seiner Braut. Und ich wünschte mir einen guten Büdel voll Wind, damit wir schneller unser Ziel, den Spencer Golf, erreichen würden. Unsere Viermastbark war ein besonders schnelles Schiff. Es lief wie die Feuerwehr, jedoch, wir lagen in einer Flaute. Na, und am 24., morgens um fünf Uhr, ging es dann los. Ich lag noch in der Kajüte. Aber ein guter Kapitän schläft nie, er schlummert. Ich hörte, daß Wind aufkam. Ich raus aus der Koje und an Deck. Und da pfiff es auch schon gehörig. Wir mußten Segel wegnehmen. Zuerst nur ein paar, dann mehr, wenig später heulte ein Sturm mit Stärke zehn.

    Uns war unheimlich zumute, denn wir hatten trotz des Sturmes keine hohen Wellen. Die See war so ruhig, daß wir an Deck hätten Billard spielen können. Die Gischt flog über die Wasseroberfläche. Wir konnten uns das nicht erklären. Die PRIWALL jagte mit der ungeheuren Geschwindigkeit von 16 Knoten über die weiße Wasserfläche.

    Und dann kam Heiligabend. Das Schiff schoß immer noch durch das Wasser. Wir versammelten uns in der Messe, alle 27 Männer. Nur Rudergänger und Wachoffizier waren an Deck. Ich hielt eine kurze Rede. Reden ist nicht meine Sache. Viel mehr als „frohe Weihnacht“ habe ich meinen Leuten wohl nicht gesagt. Mir war mein Wunsch in Erfüllung gegangen, es war wirklich ein Wunder, bei zehn Windstärken eine spiegelglatte See zu haben und mit 16 Knoten Fahrt durch das Wasser zu jagen.

    Diese Situation hatte uns wohl alle verzaubert. Denn als wir beim Punsch zusammensaßen, herrschte im Logis eine Harmonie, wie ich es nie wieder erlebt habe. Wir fühlten uns wie eine große friedfertige Familie. Es war mein schönster Heiligabend auf See.

    Als wir uns dann aber alle am ersten Feiertag noch einmal zusammensetzen wollten, brach plötzlich die Hölle los. Der Wind hatte die Richtung geändert und heulte jetzt noch stärker. Außerdem schneite es auf einmal stark. Es war bitter kalt. Eine hohe See hatte sich aufgebaut. Ich mußte die Mannschaft an Deck pfeifen. Plötzlich hatten wir Orkan. Das Schiff legte sich immer mehr auf die Seite. Selbst mir wurde es mulmig.
    Vorbei war es mit der ruhigen Festtagsstimmung an Bord. Es wäre auch zu schön gewesen, einmal ruhige Weihnachten an Bord zu verleben. Wir wollten abfallen, mehr auf den Vorm-Wind-Törn gehen. Aber selbst elf Mann am Ruder schafften es nicht, das Schiff auf einen anderen Kurs zu bringen. Es war unmöglich, Segel wegzunehmen. Der Wind hätte die Leute von den Rahen gefegt. Das Schiff legte sich immer mehr auf die Seite. Die Situation wurde immer brenzliger. 'Wir müssen die Masten kappen', schoß es mir durch den Kopf. Wenn nicht, kentern wird. Plötzlich wurde das Großsegel von einer Bö weggerissen und durch die Luft gewirbelt. Langsam richtete das Schiff sich wieder auf. Wir atmeten auf. Das Schiff, die PRIWALL, war gerettet und wir damit auch. An Weihnachten dachte keiner mehr.“

    Robert Clauß, letzter Kapitän der PASSAT

    Anmerkung: Diese Erzählung stammt von der Reise im Winter 1932/33, auf der Clauß mit der PRIWALL den absoluten Rekord schaffte: in 62 Tagen Englischer Kanal - Spencer Golf. Parallel segelte Jürgen Jürs auf der PADUA, doch die erreichte den Spencer Golf "erst" nach 63 Tagen. Selbst der Teeklipper CUTTY SARK war auf dieser Route mit 64 Tagen nicht schneller.